Total Pain verstehen: Ganzheitliche Begleitung für Sterbende

Was Angehörige und Du wissen sollten.

Sterbebegleitung Dimensionen
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Mara

Sterbe- und Trauerbegleitung

Liebe Wegbegleiter!

Wenn ein geliebter Mensch im Sterben liegt, stehen viele Angehörige vor einer zentralen Frage: Was kann ich tun, um wirklich zu helfen? Häufig liegt der Fokus auf der Linderung körperlicher Schmerzen – verständlich, denn sichtbare Symptome rufen am schnellsten nach Reaktion. Doch das Leiden am Lebensende ist oft vielschichtiger. Es beruht nicht nur auf körperlichen Beschwerden.

Der Begriff „Total Pain“, geprägt von der britischen Ärztin Cicely Saunders, hilft dabei, das komplexe Leiden sterbender Menschen besser zu verstehen und ihnen ganzheitlich zu begegnen.

Was bedeutet „Total Pain“?

„Total Pain“ oder „Gesamtschmerz“ bezeichnet das ganzheitliche Leiden eines schwerkranken oder sterbenden Menschen, das körperliche, psychische, soziale und spirituelle Dimensionen umfasst. Cicely Saunders, die Begründerin der modernen Palliativmedizin, erkannte durch ihre Arbeit mit sterbenden Menschen, dass körperliche Schmerzen nicht isoliert betrachtet werden dürfen. Häufig beeinflussen seelische oder soziale Belastungen das Schmerzempfinden erheblich. Anders gesagt: Ein Mensch, der mit ungelösten Konflikten, Ängsten oder spirituellen Fragen ringt, kann stärkere Schmerzen empfinden – selbst dann, wenn diese körperlich eigentlich gut behandelbar wären.

Die vier Dimensionen des Total Pain

Körperlicher Schmerz

Dieser ist am deutlichsten wahrnehmbar. Er entsteht durch Tumore, Entzündungen, Druckgeschwüre, Metastasen oder neurologische Reize. In der Palliativpflege liegt ein wichtiger Schwerpunkt auf einer möglichst effektiven Schmerztherapie, häufig mithilfe der WHO-Stufenschemata zur Schmerzbehandlung. Doch nicht immer ist die Ursache rein körperlich – insbesondere bei Schmerzen, die nicht auf übliche Therapien ansprechen, lohnt sich ein Blick auf die anderen Dimensionen des Total Pain.

Psychischer Schmerz

Viele sterbende Menschen erleben Angst, Trauer, Wut, Schuld oder Verzweiflung. Sie blicken auf ihr Leben zurück und stellen sich Fragen: Habe ich genug Zeit mit meinen Kindern verbracht? Habe ich Fehler gemacht, die ich bereue? Wie wird meine Familie ohne mich zurechtkommen? Diese Gedanken können ebenso schmerzhaft sein wie eine körperliche Wunde. Psychischer Schmerz zeigt sich oft durch Unruhe, Schlaflosigkeit oder Reizbarkeit – manchmal auch durch Rückzug und Schweigen.

Sozialer Schmerz

Das soziale Umfeld eines Menschen verändert sich im Sterben drastisch. Rollen fallen weg – als Mutter, Vater, Partnerin, Kollege oder Freundin. Die Angst, nicht mehr gebraucht zu werden, die Sorge, eine Last zu sein, oder der Schmerz über Konflikte, die unversöhnt bleiben, belasten viele schwerkranke Menschen. Auch finanzielle Sorgen oder das Gefühl, isoliert zu sein, gehören in diese Kategorie.

Spiritueller Schmerz

Hier geht es nicht primär um Religion, sondern um tiefere Fragen nach Sinn, Hoffnung und innerem Frieden. Was bleibt von meinem Leben? Was war der Sinn meines Daseins? Was erwartet mich nach dem Tod? Diese Fragen können sehr belastend sein – vor allem, wenn keine Worte oder Rituale gefunden werden, um ihnen zu begegnen. Auch Menschen ohne Glaubensbindung haben spirituelle Bedürfnisse: den Wunsch nach Versöhnung, das Bedürfnis, Spuren zu hinterlassen, oder die Sehnsucht nach innerer Ruhe.

Warum Total Pain für Angehörige wichtig ist

Als Angehörige erleben wir oft eine Ohnmacht, weil wir das Leiden eines geliebten Menschen nicht einfach wegnehmen können. Doch das Konzept des Total Pain kann helfen, besser zu verstehen, wo Hilfe möglich ist. Es zeigt auf, dass auch ein aufmerksames Gespräch, das Halten der Hand oder das Klären eines offenen Themas zur Schmerzlinderung beitragen kann. Meist dort wo Schmerzmittel nicht mehr weiterhelfen können.

Beispiel aus der Praxis: Frau M. und ihr Vater

Frau M. begleitete ihren Vater in dessen letzten Lebenswochen. Er war an Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium erkrankt und litt unter starken Rückenschmerzen. Die behandelnden Ärzte hatten bereits eine effektive Schmerztherapie eingeleitet, doch trotz steigender Morphindosen klagte Herr M. weiterhin über Schmerzen.

Ich wurde hinzugezogen und sprach mit dem Vater nicht nur über seine körperlichen Beschwerden, sondern auch über seine Gedanken und Sorgen. Dabei stellte sich heraus: Herr M. machte sich große Vorwürfe, weil er sich während der Kindheit seiner Tochter oft abwesend und streng verhalten hatte. Er hatte Angst, dass sie ihm das nicht verziehen hatte (Soziale Schmerzen)

In einem intensiven Gespräch konnte ihm seine Tochter sagen, dass sie längst Frieden mit der Vergangenheit geschlossen hatte. Nach diesem Gespräch veränderte sich etwas – Herr M. wirkte ruhiger, seine Schmerzen ließen spürbar nach und seine Medikamente mussten nicht mehr erhöht werden.

Dieses Beispiel zeigt: Schmerzen sind oft mehr als körperlich – und manchmal reicht ein Gespräch, um sie zu lindern. 

Was Angehörige konkret tun können

  1. Zuhören und Dasein: Der wichtigste Schritt ist oft der einfachste – und zugleich der schwerste: einfach da sein. Ohne etwas lösen zu müssen. Ohne zu beschwichtigen. Nur zuzuhören. Viele Sterbende empfinden Trost allein durch die stille, aufmerksame Präsenz eines geliebten Menschen.

  2. Offene Gespräche ermöglichen: Es braucht Mut, über Gefühle, Ängste oder Abschied zu sprechen. Doch oft ist es genau das, was hilft. Fragen wie „Was brauchst du gerade?“ oder „Gibt es etwas, das du noch klären möchtest?“ können Türen öffnen.

  3. Fachliche Unterstützung einholen Palliativdienste, Hospizbegleiter:innen, Psycholog:innen oder Seelsorger:innen sind dafür da, alle Dimensionen des Total Pain zu begleiten. Angehörige sollten nicht zögern, solche Unterstützung anzunehmen oder anzubieten.

  4. Eigene Grenzen achten: Sterbebegleitung kann emotional sehr belastend sein. Angehörige brauchen ebenso Raum für ihre eigenen Gefühle, Ängste und Bedürfnisse. Wer für andere da sein möchte, muss auch auf sich selbst achten.

  5. Rituale schaffen: Kleine Rituale können Halt geben – ein gemeinsames Lied, eine Kerze, ein Gebet, ein Fotoalbum, das gemeinsam angeschaut wird. Sie geben Raum für Verbundenheit und Ausdruck.

  6. Körperliche Nähe zulassen: Berührung wirkt oft beruhigend: eine Hand halten, streicheln, eine Umarmung. Sie spricht eine Ebene an, die Worte manchmal nicht erreichen.

Fazit: Total Pain ganzheitlich begegnen

Das Konzept des Total Pain fordert uns heraus, über das Sichtbare hinauszusehen. Es lädt dazu ein, den ganzen Menschen in den Blick zu nehmen – mit all seinen Facetten, Beziehungen und Lebensgeschichten. Für Angehörige bedeutet das eine große Verantwortung, aber auch eine große Chance: wirklich mitfühlend zu begleiten. Wer nicht nur fragt „Wo tut es weh?“, sondern auch: „Was liegt dir auf dem Herzen?“, der kann helfen, selbst dort, wo keine Heilung mehr möglich ist.

Denn Sterben ist mehr als ein medizinischer Prozess. Es ist ein zutiefst menschlicher

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