Abschied nehmen: Mein Erfahrungsbericht zu den Sterbephasen
Sterbebegleitung verstehen: wie sich Körper und Seele vom Hierseits verabschieden.


Mara
Sterbe- und Trauerbegleitung
Liebe Wegbegleiter!
Es gibt Begegnungen, die bleiben. Nicht laut, nicht dramatisch – aber tief. Frau M. war eine dieser Begegnungen. Als ich sie zum ersten Mal im Seniorenheim traf, war da sofort eine stille Verbindung. Sie war 78 Jahre alt, von Krankheit gezeichnet, und dennoch voller Würde. Der Lungenkrebs hatte ihren Körper geschwächt, aber ihre Seele sprach noch in Blicken, in Gesten, in ganz feinen Nuancen.
Ich durfte sie in ihrem letzten halben Jahr begleiten – und in dieser Zeit miterleben, wie sich die körperlichen Zeichen des Abschieds mit den psychischen Sterbephasen verwoben. Jeder Moment mit ihr war leise und bedeutungsvoll – und ich möchte ihre Geschichte erzählen. Nicht, um zu erklären, sondern um zu berühren.
Meine Sterbebegleitung von Frau M.
Ich erinnere mich noch genau an jenen ruhigen Nachmittag, als Frau M., 78 Jahre alt, mich mit einem kaum hörbaren Atemzug in ihren Bann zog. Ein kurzes Innehalten, dann ein tiefer Zug – und wieder Stille. In diesem Moment wurde mir klar, dass Abschied nicht in einem Augenblick geschieht, sondern sich in vielen kleinen Schritten offenbart: Der Körper sendet Signale, und gleichzeitig erlebt die Seele ihre eigene Reise.
Vor einem halben Jahr lernte ich Frau M. kennen. Sie war 78 Jahre alt und lebte in einem Seniorenheim. Sie war klar und wusste ganz genau was sie von ihren Mitmenschen und ihrem Leben erwarten wollte. Vor einigen Tagen wurde bei ihr ein metastasierten Lungenkrebs diagnostiziert, der sich in den Wochen zuvor immer stärker bemerkbar machte.
Phase 1 – Verleugnung
Als ich sie das erste Mal kennen lernen durfte, zeigte sich die Verleugnung auf eindrucksvolle Weise. Frau M. bestand darauf, dass alles in bester Ordnung sei, las weiter ihre Zeitung und plauderte aufgeweckt aus ihrem Leben. Dabei wurde ihre Atmung langsamer, Hände und Füße kühlten ab – ein leiser Warnschuss des Lebensendes. Ich setzte mich zu ihr, nahm ihre Hand und flüsterte: „Es ist in Ordnung, nicht alles zu verstehen.“ Dieses stille Dasein, dieser geduldige Blick, war für sie wichtiger als jedes Wort. Ihre Kinder waren mit der Situation überfordert, da sie hofften mit allen notwendigen Therapien und Operationen ihrer Mutter noch helfen zu können. Doch mit zunehmender Präsenz der Kinder schließt sich Frau M. immer weiter vor ihren Kindern zu schützen.
Ich erklärte den Kindern, dass Frau M. Zeit braucht die Situation zu verstehen und zu verarbeiten. Es ist wichtig ihr hierfür den notwendigen Raum zu schaffen, welchen sie für sich braucht, alles andere wird mit der Zeit kommen. Nur wenn die Kinder ihrer Mutter Zeit und Raum für die Verarbeitung der Diagnose ermöglichen, wird sie bereit für den nächsten Schritt sein.
Phase 2- Zorn
Mit der Zeit verstand Frau M. ihre Lage. Unruhig schob sie die Decke beiseite, wechselte immer wieder die Position im Bett, und in ihren Augen flackerte Unmut. „Warum ich?“, rief sie leise auf und spürte in jeder Faser ihres Körpers den Drang, sich gegen das Unvermeidliche zu wehren. Ich sagte nicht viel, sondern ließ Raum für ihren Zorn und versicherte: „Ich verstehe deine Wut. Ich bin bei dir.“ Oft genügt es, die Emotionen willkommen zu heißen, statt sie zu bekämpfen. Wichtig waren auch hier wieder ihre Kinder mit einzubeziehen. Ihnen zu erklären das die Wut für die Verarbeitung unglaublich wichtig ist und sich der Zorn nicht gegen sie richtet, auch wenn häufige Aussagen von Frau M. sich danach anhörten.
Phase 3- Verhandeln
Einige Tage später öffnete sich eine neue Tür: das Verhandeln. Frau M. wünschte sich bei der Hochzeit ihrer Enkelin dabei sein zu dürfen, welche erst in ein paar Jahren stattfinden sollte. Dafür wollte sie auf ihre Süßigkeiten verzichten und mehr Sport treiben. Ihr Blick war dabei klar, wenn auch nur für Augenblicke. Meine Aufgabe bestand darin, sie nicht von ihrem Glauben abzubringen, oder sie darin zu ermutigen. Ich unterstützte sie dabei, indem ich mit ihr kleine Sportübungen im Bett oder auf dem Stuhl durchführte. Auch ihr Lieblingssüßigkeiten als Mitbringsel entfielen.
Zusätzlich organisierte ich einen Videoanruf mit ihrer Enkelin, welche seit einigen Jahren im Ausland lebt. Im Hintergrund lief leise ihre Lieblingsmusik und im Anschluss gab es eine beruhigende Handmassage mit ihrem Lieblingsduft Blumenwiese.
Diese rituellen Gesten, so klein sie sein mögen, geben in der Sterbebegleitung einen tiefen Sinn und gehören zum Konzept der basalen Stimulation. Sie ermöglichen es mit Frau M. über die verschiedenen Sinne zu kommunizieren und ihr Halt und Sicherheit zu vermitteln. Wenn immer sich Frau M. unwohl fühlte, holte ich den Duft und ihre Musik heraus, sodass sie sich an den schönen Moment mit ihrer Enkelin erinnern konnte, und das unwohl sein gemindert wurde.
Phase 4- Depression
Trotz alle dem kam die Zeit der Traurigkeit, die depressive Phase – eine Phase, die von den Sterbenden durchlaufen wird, und keine Antwort auf die Qualität der Sterbebegleitung ist.
Bei Frau M. zeigte sie sich im sozialen Rückzug, der Verweigerung ihres Lieblingsessen den Apfelstrudel und einer zunehmenden Verweilung in ihre Dämmerwelt. Frau M. weinte leise und flüsterte: „Ich habe nichts mehr vor mir.“ Ich saß schweigend an ihrer Seite, spielte leise Klaviermusik und hielt ihre Hand, damit sie wusste, dass sie nicht allein war.
Sie trauerte um die verpassten Gelegenheiten und um die Momente, die sie versäumen wird, vor allem die Hochzeit ihrer Enkelin. Ihre Kinder waren mit der Situation überfordert, sie wollten ihre Mutter aus der Traurigkeit befreien und haben versucht sie mit Aktivitäten herauszulocken. Doch vergebens, denn die Motivation von Frau M. war niederschmetternd.
Auch hier war es meine Aufgabe, zwischen Frau M. und ihren Kindern zu vermitteln. Ihr den notwendigen Raum für ihre Trauer zu geben und ihren Kindern das Gefühl von Sicherheit und Gewissensruhe zu vermitteln.
Für Frau M. half hier erneut die Basale Stimulation aus dem Bereich der auditiven, vestibulären, visuellen und haptischen Wahrnehmung. Auch der Besuch eines Kunst- und Musiktherapeuten half Frau M. ihre Gefühle und Emotionen in ihrem eigenen Tempo zu verarbeiten.
Phase 5- Akzeptanz
Und dann, als wäre ein Schleier gelüftet, trat nach einigen harten Wochen die Akzeptanz ein. Ihre Atmung wurde zu einem sanften Flüstern, ihr Gesicht wirkte entspannt, fast wie ein friedliches Lächeln. In einer leisen Stimme sagte sie: „Es ist gut so.“ Ich sprach von Liebe und Dankbarkeit, wünschte ihr Frieden und ließ sie in Geborgenheit ihren letzten Weg gehen.
Auch ihre Kinder ließen sie gehen und der Druck, der noch vor einiger Zeit auf sie lastete, war verschwunden. Frau M. wurde zunehmend ruhiger, ihre Unruhe wich und ihr Bewusstsein nahm eine andere Dimension an. Sie und ihre Familie waren bereit für den Abschied, der sich bereits vor langer Zeit bemerkbar machte.
Der körperliche Sterbeverlauf ging in die letzte Phase über, der Finalen Sterbephase:
Frau M. stellte das Essen und Trinken ein und auch ihre wachen Phasen wurden weniger. Die Haut wurde zunehmend blasser und vor allem an ihren Händen und Beinen kälter. Doch das Gefühl von Kälte war nur für uns Außenstehenden wahrnehmbar. Frau M. wirkte entspannt, zufrieden und erfüllt.
Meine Aufgabe war es nun den Kindern die letzte Sterbephase – Finale Sterbephase– zu erklären. Ich zeigte ihnen auf welche Symptome sich achten müssten und welche dazu notwendigen Pflegemaßnahmen sie ihrer Mutter noch erweisen konnten, näher zu bringen.
Mein Ziel war es, die Kinder zu stärken und ihnen die Angst vor dem letzten Moment zu nehmen. Aufklärung und Wissen hilft, das Schreckhafte des Sterbens und des Todes zu verlieren. Während ihrer letzten Minuten duftete der Raum nach Apfelstrudel und Blumenwiese. Die Kinder hielten die Hand ihrer Mutter und im Hintergrund lief leise ihre Musik. Der letzte Atemzug war im ausschließlichen Beisein ihrer Kinder und ohne mich. Ich war im Nebenraum, denn durch meine gute Sterbebegleitung fühlten sich die Kinder und auch Frau M. sicher genug, den letzten Schritt als Familie gemeinsam zu gehen, mit dem Wissen, mich in abrufbarer Nähe da zu haben.
Dieser Erfahrungsbericht zeigt mir immer wieder, wie eng körperliche Anzeichen und psychische Phasen beim Sterben verwoben sind und vor allem wie wichtig Aufklärung und Ehrlichkeit in dieser Phase ist. Für mich als Sterbebegleiterin ist das begleitende Sein – mal mit Worten, oft mit Stille – das größte Geschenk.
Kostenloses Freebie: Wenn du als Angehörige*r Impulse für jede Phase suchst, lade mein PDF „lebensnah-sterben“ herunter und finde Orientierung und Trost für diesen besonderen Weg.
Mara – Begleitung am Lebensend